Junges Sinfonieorchester Hannover, Tobias Rokahr; Andrew Tyson, Klavier - Georgengarten in Herrenhausen
Russische Schwermut, französischer Salon und ein Hauch Broadway.
Mit Mussorgsky durch eine Gemäldegalerie zu wandeln heißt, sich im Minutentakt auf ein neues Stimmungsbild einzulassen. Diese Flexibilität lernte mancher Zuhörer des programmatischen Werkes „Bilder einer Ausstellung“ erst nach einigem Hinsehen- bzw. hören. Zwischen den Bildern wurde eifrig geklatscht, was ja als Ansporn und Anerkennung durchaus motiviert und im Rahmen eines Freiluftkonzertes nicht unbedingt einen Fauxpas darstellt.
Unter der Leitung seines erfahrenen und schwungvollen Dirigenten Tobias Rokahr spielte das Junge Sinfonieorchester Hannover im Georgengarten Hannover vor etwa 5.000 Zuhörern die Orchesterfassung von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. Die „russische Seele“ kommt so wunderbar in ihrer ganzen Schwermut und Tiefgründigkeit zur Geltung, wenn es darum geht, die Hütte der Baba-Jaga zu beschreiben, das große Tor von Kiew majestätisch und würdevoll zu durchschreiten oder die kleinen Küken tanzen zu lassen. Die Vielfalt an rhythmischen und melodischen Einfällen dieses groß angelegten Werkes wird durch die sich ständig wiederholende „Promenade“ strukturiert und zwingt dadurch zum Innehalten. Das Junge Sinfonieorchester hat sich bestens bewährt mit diesem anspruchsvollen Werk. Sicher hätte der Streichergruppe etwas mehr klangliche Homogenität gut getan, aber insgesamt war eine überzeugende und schlüssige Interpretation Anlass für begeisterten Applaus.
Der imposante Auftakt des alljährlich stattfindenden Open-Air-Konzertes der Chopin-Gesellschaft Hannover wurde nach der Pause noch eindrucksvoll gesteigert durch den jungen amerikanischen Pianisten Andrew Tyson. Trotz einer kleinen Beeinträchtigung durch einen grippalen Infekt überraschte Tyson mit einer so ungeheuer ausgefeilten, sensiblen Klanggestaltung, dass einem beinahe der Atem stockte. In Abänderung des Programms, Liszt „Rhapsodie espangnole“ stand auf dem Programm, spielte Tyson zwei Mazurken und eine Ballade von Chopin mit einer Leichtigkeit und Intimität, dass man sich fast in einem französischen Salon wähnte und den Komponisten selbst spielen hörte. Solch eine Kultiviertheit und Eleganz ist selten zu hören und findet sich nach biografischen Beschreibungen in Chopins Konzerten in den Pariser Salons. Mit schlankem Ton, nuanciert und effektvoll formte Tyson die romantische Musik Chopins zu einer anmutigen Poesie. Großer Applaus wurde diesem faszinierenden Pianisten zuteil.
Mit einer der bekanntesten Kompositionen des amerikanischen Broadwaykomponisten George Gershwin, der Rhapsodie in Blue, zeigte das Junge Sinfonieorchester seine Stärke in der Gestaltung des schwungvollen, jazzig angehauchten Genres. Tyson hat den Klavierpart brillant, stilvoll und souverän aufgefächert. Eine gelungene Synthese von klassischer Sinfonik und Elementen des Jazz.
Eine Zugabe konnte das begeisterte Publikum herausfordern, die Sonate d-Moll K 9 von Domenico Scarlatti. Mit ungewöhnlich viel Ritardando und agogischer Freiheit, dynamisch extrem ausgereizt, ja fast schon romantisch anmutend, gestaltete Tyson dieses kurze italienische Barockstückchen und es klang wahrhaftig und überzeugend.
Okka Mallek Hannover, 21.08. 2016
Das Junge Sinfonieorchester Hannover
spielt seit über 50 Jahren eine herausragende Rolle innerhalb des hannoverschen Kulturlebens; es setzt sich zusammen aus Studierenden, jungen Berufstätigen, Schülerinnen und Schülern. Einen Großteil bilden hierbei Studierende unterschiedlicher Studiengänge der Hochschule für Musik, Theater & Medien Hannover. Die Leitung liegt traditionell in den Händen von Professoren bzw. Dozenten der Musikhochschule, sodass vielfältige Kooperationen stattfinden. Aufgrund dieser spezifischen Zusammensetzung behauptet das JSO seinen Ruf als „semiprofessionelles“ Ensemble von herausragendem musikalischen Niveau.
Im alljährlichen Open Air Konzert im Georgengarten, das jedes Mal bis zu 5000 Zuhörer anlockt, trifft das Orchester auf Solisten von internationalem Rang und präsentiert sich einer breiten Öffentlichkeit.
Daneben werden turnusmäßig zwei Konzertprogramme pro Jahr erarbeitet; während des laufenden Semesters trifft sich das Orchester zu wöchentlichen Proben am Donnerstagabend sowie ein- bis zweimal im Jahr zu Probenfahrten außerhalb Hannovers. Konzertreisen führten das Orchester nach Kenia, Spanien, Italien, Frankreich, Schottland, Österreich und Belgien sowie in die USA.
Das Orchester hat traditionell zwei Dirigenten. Es wird seit 1997 von Tobias Rokahr geleitet; zunächst zusammen mit Cornelius Meister und Kerry Jago, seit 2007 im Verbund mit Martin Lill.
Tobias Rokahr
geboren 1972, studierte an der Hochschule für Musik und Theater Hannover Schulmusik, Germanistik, Musiktheorie und Gehörbildung sowie an der Hochschule für Musik Detmold Dirigieren bei Prof. K.-H. Bloemeke. Er war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und besuchte Meisterkurse für Dirigenten, u.a. bei Sir Colin Davis. Im Jahr 1997 übernahm er die Leitung des Jungen Sinfonieorchesters Hannover. Von 2003 bis 2009 war Tobias Rokahr Juniorprofessor für Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik Mainz. 2004 verlieh ihm die Johannes Gutenberg-Universität Mainz den „Preis für exzellente Lehre“. Vom Sommersemester 2009 bis Sommersemester 2013 lehrt Rokahr als Professor für Gehörbildung und Tonsatz an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig. Zum 1. Oktober 2013 hat Tobias Rokahr den Ruf auf die Professur für Musiktheorie an der HMTMH angenommen.
Im Jahr 1997 übernahm er die Leitung des Jungen Sinfonieorchesters Hannover. Im alljährlichen großen Open Air Konzert der Chopin Gesellschaft Hannover konzertiert er mit Preisträgern der großen internationalen Wettbewerbe, so z. B. Frank Braley, Eugene Mursky oder Gwyneth Chen.
Neben seiner Unterrichts- und Dirigententätigkeit arbeitet Tobias Rokahr als Komponist; 1996 gewann er den 1. Preis beim Kompositionswettbewerb des Landesmusikrates in Zusammenarbeit mit dem Göttinger Symphonie Orchester. Daneben stehen Bühnenmusiken (FU Berlin), Liedkompositionen und diverse Aufführungen von Orchesterwerken, u.a. noch zu Schulzeiten beim Internationalen Braunschweig Classix Festival.
Andrew Tyson
begann seine Ausbildung er an der Universität von North Carolina bei Dr. Thomas Otten, später besuchte er das Curtis Institute of Music in der Klasse von Claude Frank. Seinen Master und das Solistendiplom holte er sich an der Juilliard School bei Robert McDonald.
In 2015 gewann er den 1. Preis beim Concours Géza Anda in Zürich. Zudem sprach ihm die Jury den Mozart-Preis zu. Mit der Interpretation von Chopins Klavierkonzert Nr. 1 in Begleitung des Tonhalle-Orchesters Zürich erspielte er sich auch den Publikumspreis.
Tyson trat mit amerikanischen und europäischen Orchestern auf, wie den Sinfonieorchestern von Las Vegas, North Carolina, Edmonton, dem Orchestre de Chambre de Wallonie, dem Orchestre National de Belgique unter Marina Alsop, dem Hallé-Orchester unter Sir Mark Elder. Seit Jahren ist Tyson in Klavierabenden und Festivals in Nord- und Mittelamerika sowie in zahlreichen Ländern Europas (u.a. Palais des Beaux-Arts in Brüssel, Zentrum Paul Klee in Bern, Sintra Festival, Art November in Moskau) zu hören.
Preise gewann er ausserdem beim Gina Bachauer-Wettbewerb, beim Arthur Rubinstein-Wettbewerb, beim Leeds-Wettbewerb und beim Concours Reine Elisabeth in Brüssel. Seine vielgerühmten Debüts in New York und im Kennedy Center im Jahr 2013 verdankt er der Auszeichnung bei den Young Artists International Auditions 2011. Der Terence Judd-Preis im Rahmen des Leeds-Wettbewerbs wurde ihm durch das Hallé-Orchester und Sir Mark Elder verliehen; ein Preis, der Wiedereinladungen nach Hallé zur Folge hatte.
In Verbindung mit seinem 1. Preis beim Concours Géza Anda sind unzählige Konzertauftritte geplant, u.a. mit dem Orchestra della Svizzera Italiana, dem Musikkollegium Winterthur, dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Argovia Philharmonic, dem SWR-Rundfunkorchester Stuttgart, dem Symphonischen Orchester St. Petersburg. Debüts wird er u.a. beim Lucerne Piano Festival, beim Kissinger Sommer, im Musikdorf Ernen und beim finnischen Joensuu-Festival geben. Auf Vermittlung von Steinway & Sons Hamburg wird der Bayerische Rundfunk mit Tyson im März 2016 eine Studio-Produktion von Mozarts Klavierkonzert KV 467 in Begleitung der Bamberger Symphoniker aufzeichnen.
Programm
M. Mussorgsky | Bilder einer Ausstellung |
George Gerschwin | Rhapsody in Blue |